Digitalisierung setzt Kontraktlogistiker unter Druck
Erschienen in redigierter Form im Schwerpunkt Logistik der Lebensmittelzeitung, Ausgabe 42/2020
Das Thema Digitalisierung ist aus dem beruflichen Alltag nicht mehr wegzudecken – in allen Ausprägungen werden die Auswirkungen diskutiert unter den Labels Automatisierung, Logistik 4.0, Robotik etc. Leider stehen bei den Diskussionen zur Logistik zumeist die technischen Möglichkeiten im Vordergrund: Was geht, wie viel schneller, besser, einfacher oder gar autonom? Der wahre Diskurs geht weit über diese Frage hinaus.
In einer intensiven Diskussion mit einem Handelslogistik-Experten habe ich mich konkret mit der Fragestellung beschäftigt, welche Konsequenzen die Digitalisierung im Handel einerseits hinsichtlich des Outsourcings von Lager-/ Kontraktlogistik, andererseits im Hinblick auf die Geschäftsbeziehung zwischen Händler und Logistikdienstleister haben wird – ein umfassenderer Umbruch als man meinen könnte.
Der Ausgangspunkt ist die digitale Transformation, die der Handel allgemein vollzieht. Befeuert vor allem von den Pure Playern im e-Commerce, versuchen alle Stationärhändler mit Multi- und Omni-Channel Retailing-Ansätzen Paroli zu bieten – kaum ein Händler kann sich dem Entziehen. Die Omnipräsenz des Internet ist damit der zentralen Treiber der Veränderung.
Denn auch die Händler sind getrieben durch ihre Kunden, die die Möglichkeiten der digitalen Welt immer selbstverständlicher nutzen. Eine „immer-und-überall-Erwartungshaltung“ zwingt die Händler, ihre logistischen Prozessketten zu verändern. Volle Transparenz, real- oder near-time zu generieren – nicht nur auf Produkt, sondern nun auch auf Prozessebene – wird Pflicht, z.B. zur Artikelverfügbarkeit, Reservierung des Bestandes, verbindlichen Lieferterminen sowie Statusaussagen zur Bestellabwicklung. Was als Konstante im Handel zudem bleibt, ist die knappe Marge, die ein permanentes Streben nach Kostenreduzierung bedingt, egal ob in der eigenen oder fremdvergebenen Logistik.
Es sind also zwei wesentliche Triebfedern, die die digitale Transformation bei den Händlern prägen:
- Intrinsisch: Bestehendes Streben nach Prozesseffizienz und daraus resultierenden Kostenvorteilen;
- Extrinsisch: Gestiegene Erwartungen der Kunden an die digitalen Fähigkeiten „ihres Händlers“.
Auf Seiten der Kontraktlogistik-Dienstleister findet die Digitalisierung bislang vor allem in vier Bereichen stattfindet:
- In der zunehmend professionelleren/ komplexeren IT-Anbindung an den Auftraggeber sowie der höheren Frequenz des Datenaustausches.
- In der durchgängigen Abbildung der operativen Prozessketten in den Systemen und dies im System- und Unternehmensübergreifenden Zusammenspiel.
- In der gestiegenen Prozess-Transparenz für die Auftraggeber auf Basis von Datawarehouse-Lösungen der Dienstleister.
- In der engeren, datentechnischen Verzahnung der kommerziellen Vereinbarungen mit dem Auftraggeber einerseits und den operativen Einzelleistungen andererseits, um eine effizientere Leistungsabrechnung zu ermöglichen.
Ergo: Sowohl Auftraggeber als auch Dienstleister haben jeweils einen hohen Eigenantrieb, die digitale Transformation vorantreiben. Was bedeutet dies aber für die Zusammenarbeit der beiden Parteien? Es erscheint klar, dass die gesamte Logistikprozesskette immer mehr als „ein Prozess“ zu betrachten ist, egal in wessen Hoheit die Einzelteile liegen. Die eng verzahnte Zusammenarbeit inklusive einer umfassenden IT-Vernetzung wird zum Imperativ. Dies bedingt bereits die „mächtige“ Erwartungshaltung der Endkunden an die vollkommene Auskunftsfähigkeit „ihres“ Händlers, von der mittelbar die Kontraktlogistiker betroffen sind.
Gleichzeitig müssen sich die Kontraktlogistiker mit einem neuen Selbstverständnis auseinandersetzen: Die bisherige klare Trennung der Verantwortungsbereiche in Relation zum Auftraggeber verschwindet zunehmend. Der Kontraktlogistiker wird immer mehr integraler Bestandteil einer Gesamt-Value Chain werden, in der der Händler aber die Regie führt. Logistik-Dienstleister, die im Rahmen eines Outsourcings in ihrem Leistungsbereich „autonom“ agieren und „nur“ ein logistisches Ergebnis schulden wollen, werden aussterben.
Aber auch für die Handelsunternehmen stellt sich eine Grundsatzfrage: Wenn künftig logistische „Flexibilität“ und „Skalierbarkeit“ des eigenen Logistiksystems neu definiert werden muss, ist dies in ausreichendem Maße überhaupt mit einem externen Dienstleister zu erreichen? Oder wird nicht der „direkte“ und vermeintlich schnellere Durchgriff auf eine eigene Logistikorganisation – Option Insourcing – essenziell? Letztlich benötigt der externe Partner immer eine Planungsgrundlage für seine Ressourcen. Ob und inwieweit die Händler künftig die logistischen Ausprägungen der eigenen Geschäftsentwicklung noch mit der notwendigen Präzision abschätzen können, ist dabei eher fraglich.
Gegen einen Insourcing-Trend sprechen auf den ersten Blick die – typischerweise bei der Fremdvergabe der Logistik – vom Kontraktlogistiker getätigten Investitionen. Aber seien wir realistisch: Gerade die hohen Investitionen in Immobilien, Technik oder IT sind schon immer von Dienstleistern „back-to-back“ über langfristige Verträge mit den Auftraggebern abgesichert worden. Mit künftig steigendem Automatisierungsgrad wird sich das bisherige Investitionsvolumen für Lagertechnik noch einmal deutlich erhöhen – dem durch noch längere Bindungsdauern an Dienstleister zu begegnen, erscheint wenig sinnvoll. Vielmehr stellt sich die Frage, ob der Händler nicht in jedem Fall mehr Hoheit über die Planung und den effektiven Betrieb des Logistiksystems haben muss, sofern entweder hohe Investitionen erforderlich sind oder das Logistikzentrum für den Händler individuell errichtet wird.
Zusammenfassend ist von einem eindeutigen Effekt des Digitalisierungsdrucks auszugehen: Entweder erleben wir eine stärkere Rückwärtsintegration der Logistikleistung in die Hände der Händler (Insourcing) oder die Ausbreitung von Outsourcing-Varianten als sogenannte „Betreiber-Modelle“. Bei Letzteren stellt der Auftraggeber ein funktionsfähiges Logistiksystem inkl. Infrastruktur zur Verfügung, in dessen Rahmen der Dienstleister sein Personal und Know-How einbringt, um als Betreiber zu fungieren. In beiden Varianten ist der Händler automatisch im „Driver Seat“ der Logistik und hat unmittelbarem Zugriff bei notwendigen, ggf. Markt-induzierten Veränderungen. Dies bedeutet aber auch, sich (wieder) verstärkt mit den eigenen Daten, den eigenen Mengen- und Strukturparametern der Logistik und den wahren Kosten des Logistikbetriebes beschäftigen zu müssen.
Die Kontraktlogistik-Dienstleister sind nun gefordert, sich in anderer Form um ihren jeweiligen USP zu bemühen. Wo sich früher die „Spreu vom Weizen“ durch unterschiedliche ausgeprägte Expertise zur Konzeption und dem Betrieb von Lagerlogistiken getrennt hat, ist viel davon heute zum Standard vieler Logistikdienstleister geworden. Daher bleiben wir gespannt, wie sich die führenden Player positionieren werden. Was verbleibt als tatsächlicher Wertbeitrag zur Differenzierung im Wettbewerb, vor allem aber zum „besser sein“ als eine gute Inhouse-Logistik eines Handelsunternehmens?
Andere Erfahrungen? Ich freue mich auf Ihr Feedback.
Stephan Meyer